Als Martin Thür gestern Abend in den ORF Sommernachtgesprächen einige wirtschaftspolitische Aussagen von Bundeskanzler Karl Nehammer zu hinterfragen versuchte, konterte dieser stereotyp mit der Feststellung, diese Dinge ließen sich nicht so isoliert behandeln, sondern es müsse um systemische Lösungen gehen.
Nun weiß ich nicht, was Nehammer mit „systemisch“ meint. Meine Rechtschreibkontrolle versteht das Wort überhaupt nicht und will es fortwährend auf „systematisch“ korrigieren, was so ziemlich das Gegenteil bedeutet.
„Systemisch“ war als Modebegriff vor ein paar Jahren im Kommen und ist heute schon ziemlich abgelutscht; boshaft wäre die Feststellung, nun sei es auch im Wortschatz der ÖVP angekommen.
Der professionelle Systemiker Matthias Varga von Kibéd, u.a. Professor am Institut für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie der Universität München, erklärte dazu in einem Vortrag, der komplexe Begriff „systemisch“ entzöge sich einer wissenschaftlich exakten Definition. Er schlug vor, sich seiner Bedeutung über den Komparativ anzunähern: „Ein Sachverhalt kann als umso systemischer bezeichnet werden, je konsequenter er auf kausale Begründungen verzichtet.“
Hat Nehammer mit seinem Verzicht auf Begründungen nun so etwas wie eine systemische Ökonomie entwickelt? Man darf zweifeln.
Niklas Luhmann postuliert in seiner Systemtheorie, ein System entstünde nicht durch die ihm zuzuordnenden Elemente, sondern durch die Kommunikationen zwischen diesen Elementen. Da hier, trivial formuliert, alles mit allem verbunden ist, stellt sich sehr schnell ein praktisch unüberblickbarer Komplexitätsgrad ein.
Fred Sinowatz fasste das auf legendäre Weise zusammen: „Es ist alles sehr kompliziert“.
Karl Nehammer wirkt mit seinem Ringen um „systemische Lösungen“ ein wenig wie Herakles im Kampf gegen die Hydra: Jedes gelöste Problem reißt zwei neue auf. In Summe wirkt er dann eher als Kämpfer denn als Löser, und die Zahl der Probleme nimmt zu. Etwa dann, wenn die Probleme, die aus der Abhängigkeit eines Wirtschaftssystems von seinem Wachstum entstehen, durch noch mehr Wachstum bewältigt werden sollen.
Wenig Verständnis für systemische Wechselbeziehungen zeigen der Kanzler und seine Einflüsterer, wenn sie im Bereich der komplexen Problematik von Dekarbonisierung des Verkehrs brachial feststellen: „Das Dieselprivileg bleibt. Wie auch die Pendlerpauschale“.
Lediglich einen Rechentrick bietet der Kanzler an. Man müsse die CO2-Emissionen der Tanktouristen aus den österreichischen Abgasen herausrechnen. Was weder europäisch noch systemisch gedacht ist. Allenfalls ließe sich das Dieselprivileg als versteckte Subvention für ausländische Frächter beschreiben. Muss das unser Anliegen sein?
Es geht Nehammer hier wohl primär um die vermuteten Wechselbeziehungen zwischen Stimmverhalten der Wähler:innen und dem einen oder anderen Schlagwort. Und da gilt der Vorbehalt Ludwig Wittgensteins, der in seinem tractatus postuliert: „Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube!“
Fassen wir zusammen: Der Kanzler hätte zweifelsohne Recht, wenn er die nationale und die internationale Ökonomie als System von Wechselbeziehungen (eigentlich ein Pleonasmus) begriffe und beschriebe. Damit hätte er auch in der von ihm angestrebten gesellschaftlichen Mitte gut Platz, man muss ja nicht gleich das Bild der Spinne im Netz bemühen.
Die im Sommernachtsgespräch Nehammers getroffenen Aussagen lassen allerdings zweifeln, ob die Österreichische Volkspartei tatsächlich zu einem systemischen Weltverständnis gefunden hat, das über Schlagzeilen hinausreicht.
Wo doch schon die einfache Frage, wie eine Koalition mit einer FPÖ ohne Kickl systemisch funktionieren könnte, die Grenzen des Vorstellbaren überschreitet.
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